Die Macht der Sprache
Wir haben hier den Artikel von Anja Schaefer aus unserer Mitgliederzeitung nahfairkehr, Ausgabe Oktober 2017, noch einmal aufgegriffen. Leider treffen die Beobachtungen weiterhin zu. Der ursprüngliche Text wurde gendergerecht umgeschrieben. Das Titelbild ist KI-generiert.
Siehe auch unser Positionspapier zum Radverkehr vom April 2019.
G’scheid radeln oder: Das Auto und die Macht der Sprache
Eine Betrachtung von Anja Schaefer
Fehler beim Autofahren werden anders bewertet als Fehler beim Radfahren. Klar, könnte man meinen, Autos sind ja auch gefährlicher für Andere als Fahrräder. Aber: Sprache und Interpretationen von Polizeiberichten, in Kampagnen und teils in der Presse suggerieren oft das Gegenteil. Im Frühjahr 2011 war in München die Anzahl der Unfälle mit Radbeteiligung gegenüber dem Vorjahr um 30 Prozent gestiegen. Das nahmen Polizei und Kreisverwaltungsreferat zum Anlass, eine Kampagne zum Schutz von Radlerinnen und Radlern zu beginnen: „Gscheid radln – aufeinander achten!“.
An sich wäre das zu begrüßen, denn mit 42 Prozent stellen Radler*innen auch laut Verkehrsbericht (VB) 2016 den Hauptanteil der schwer Verunglückten. Fehler beim „Abbiegen/Wenden“ und bei „Vorrang/Vorfahrt“ verursachten damals wie heute mit Abstand die meisten Unfälle. Doch diese machten hauptsächlich andere Verkehrsteilnehmende, nicht die Radler*innen (VB 2011, S. 26). Trotzdem wurde die Kampagne „Gscheid radln“ genannt, nicht „Gscheid autofahren“, „Gscheid abbiegen“ oder „Sicherheit für alle!“. In ihren Äußerungen wird die Polizei – und mit ihr oft auch die Presse – nicht müde, mantraartig zu wiederholen: „Über die Hälfte der Verkehrsunfälle mit Beteiligung von Radfahrern wurden von den Radfahrern verursacht“ (Homepage „Gscheid radln“). Das stimmt, in der Summe betrachtet. Schaut man aber genauer in den VB 2015, auf den sich dieses Zitat bezieht, sieht man: Kinder (0-13 Jahre), Jugendliche (14-17 Jahre) und Senior*innen (ab 65 Jahre) waren tatsächlich öfter „Täter“ (Hauptverursacher) als „Opfer“ (Nichtverursacher), Erwachsene (25-64 Jahre) waren hauptsächlich „Opfer“, junge Erwachsene (18-24 Jahre) zu gleichen Teilen „Opfer“ und „Täter“ (VB 2015, S. 32). Es ist also die besonders schutzbedürftige Gruppe der – altersentsprechend – impulsiven Kinder, risikobereiten Jugendlichen und in Wahrnehmung und Motorik teils beeinträchtigten Senior*innen, die als Radelnde häufiger Unfälle verursachen und sich damit wohl am meisten selbst gefährden. Klassische „Radlrowdys“ sind es nicht. Es sollte deshalb mantraartig wiederholt werden: „Kinder, Jugendliche und Senior*innen verursachen ihre Radunfälle überwiegend selbst. Da sie schutzbedürftig sind, sollten alle anderen Verkehrsteilnehmenden besonders auf sie achten“. Neben der Aussage, „die“ Radfahrenden seien meist selbst schuld, wird ihnen oft implizit eine Mitschuld an der Schwere der Unfälle gegeben: „Alle fünf getöteten Radfahrer trugen keinen Fahrradhelm, in zwei dieser Fälle erlagen die Radfahrer den Folgen ihrer Kopfverletzungen“ (VB 2015, S. 31).
Nach dieser Logik müsste auch das „Nicht-Helm-Tragen“ verunglückter Fußgängerinnen und Fußgänger betont werden, denn diese sind im Straßenverkehr noch mehr gefährdet als Radler*innen. Die Umkehr der Verantwortung von den Verursachenden der Gefahr hin zu den gefährdeten Verkehrsteilnehmenden zeigt sich auch im Umgang mit dem „toten Winkel“: Dieser Gefahr kann laut Polizei nur durch die Umsicht der Radfahrenden und Fußgänger*innen begegnet werden (Homepage „Gscheid radln“ u. VB 2016, S. 18). Auch sprachliche Feinheiten spiegeln die benachteiligte Rolle der in den Verkehrsberichten so genannten „besonderen Beteiligungsformen“ Rad- und Fußverkehr gegenüber dem motorisierten Individualverkehr wider – der offenbar als die „normale“ Form gilt. In der „Kurzübersicht der tödlichen Verkehrsunfälle“ im VB 2016 heißt es regelmäßig: PKW/LKW-Fahrer „übersah“ Fußgänger, Radfahrer, Inlineskater oder Straßenbahn – die jeweils Vorrang hatten. Oder auch: LKW-Fahrer „übersah beim Linksabbiegen einen verbotswidrig auf dem Gehweg kommenden“ Radler (S.16 f). Sind am Unfall dagegen zwei PKW-Fahrer beteiligt, heißt es: PKW-Fahrer „missachtete die Vorfahrt“ eines anderen PKW, PKW-Fahrer fuhr mit „überhöhter Geschwindigkeit ungebremst“ in einen anderen PKW. Wegen der vielen Abbiegeunfälle fragte im März 2017 die Polizei auf die Anregung des ADFC hin endlich und erstmals Radler*innen nach gefährlichen Kreuzungen. Auf Facebook wurde, nahezu entschuldigend für diese Umfrage, betont, es gehe hier nicht um Schuldzuweisungen, und Zielgruppe der Kontrollen seien nicht ausschließlich LKW- oder PKW-Fahrende, sondern auch Radelnde. Die Abendzeitung schrieb über die Ergebnisse der Umfrage. Nach dem üblichen Mantra, dass über die Hälfte der Unfälle von Radelnden selbst verursacht wurden, wird berichtet, wie die Radler „ziemlich flott entlang der Isar unterwegs“ sind. Es komme immer wieder zu gefährlichen „Begegnungen“ mit Autofahrenden, „die abbiegen wollen und dabei die Radler übersehen“. An einem weiteren Brennpunkt „rauschen“ die Radler*innen „mit Karacho“ durch die Unterführung – „Autofahrer sehen die Radler oft viel zu spät aus der Dunkelheit auftauchen“ (AZ 27.03.2017).
Fazit: Autofahrer*innen „nehmen die Vorfahrt“ und „fahren mit überhöhter Geschwindigkeit“, wenn die Geschädigten andere Autofahrende sind. Diese objektive Beschreibung des Sachverhalts gibt es für Radler*innen als Unfallopfer meist nicht. Sie werden von Autofahrenden grundsätzlich „übersehen“ (VB 2016, S. 35). Hier wird zugunsten der Autofahrenden über Ursachen spekuliert statt beschrieben. Genauso könnten sie die Vorfahrt bewusst missachten, die Regeln nicht kennen oder die Geschwindigkeit falsch einschätzen. Weshalb wird überhaupt gemutmaßt statt beschrieben? Wenn Radler*innen dagegen Anderen die Vorfahrt nehmen, wird meist das Schlechteste unterstellt: Beispiel „Gscheid radln“, Rückblick 2016: Nach dem üblichen Mantra folgt: „hauptsächlich missachteten sie dabei die Vorfahrt“. Autofahrende machen Fehler bei der „Geschwindigkeitswahl“ oder fahren mit „unangepasster“ Geschwindigkeit (VB 2015, S. 10, VB 2016, S. 7) – suggerierend, sie dürften wählen, wie schnell sie fahren. Vorschriften sind Vorschläge, und wer passt sich schon gern immer an? Radelnde dagegen fahren „mit Karacho“, „ziemlich flott“ oder „verhalten sich regelwidrig“.
Klar, dass sie erstmal „Gscheid radln“ lernen müssen! Kürzlich beschrieb die Sozialhistorikerin Dr. Bettina Gundler die lange Tradition der „Disziplinierung der Radfahrer“ und der Förderung des Autoverkehrs auf Kosten anderer Verkehrsteilnehmenden. Diese begann bald nach der Erfindung des Automobils, war unabhängig vom tatsächlichen Anteil an der Verkehrsleistung und spiegelte die gesellschaftlichen Machtverhältnisse (Vortrag am 30.03.2017, Verkehrszentrum München). Diese Tradition ist noch sehr lebendig.